Die Tatsache, dass diese Fähigkeiten jetzt zu einem expliziten Ziel des Medizinstudiums werden, ist nicht unproblematisch, wie sich am Beispiel des Konstrukts der Reflexion zeigen lässt. Die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Denkens, Erlebens und Handelns bzw. der diesen Vorgängen zugrundeliegenden Beweggründe, Annahmen oder Auslöser ist nicht nur für die Domäne des professionellen Handelns, sondern für die Kompetenzorientierung insgesamt von zentraler Bedeutung. Umso wichtiger wäre es, ein gemeinsames Verständnis darüber zu haben, was unter Reflexion genau verstanden werden soll, damit überprüft werden kann, ob die Studierenden in ausreichendem Maß über Reflexionsfähigkeit verfügen (Koole et al.
2011). Beide Aspekte sind derzeit nur unzureichend entwickelt. So gibt es in der medizinischen Ausbildungsforschung bislang keinen Konsens darüber, was unter Reflexion verstanden werden soll (Fragkos
2016). Übersichtsarbeiten zeigen zwar, dass sich Reflexion durch gezielte Lehrinterventionen fördern lässt, allerdings wird gleichzeitig kritisiert, dass diesen Interventionen kein gemeinsames Verständnis von Reflexion zugrunde liegt und damit letztendlich auch nicht entschieden werden kann, ob die in der Literatur beschriebenen Lehrinterventionen tatsächlich auch auf die Entwicklung derselben Fähigkeiten zielen (Uygur et al.
2019). Vor diesem Hintergrund ist der Versuch interessant, aus den am häufigsten zitierten Arbeiten, die sich mit der Definition von Reflexion befassen, typische Kernelemente des Konstrukts herauszuarbeiten, um einem gemeinsamen Verständnis von Reflexion näher zu kommen (Nguyen et al.
2014). Allerdings gibt es auch Kritik an solchen pragmatisch orientierten Versuchen, Reflexion eindeutiger zu fassen (Ng et al.
2015). Befürchtet wird vor allem, dass eine zu enge Definition und Operationalisierung von Reflexion deren eigentlichen Kern verfehlt und gerade nicht zu einem (selbst-) kritischen Nachdenken über die dem eigenen Erleben und Verhalten zugrundeliegenden Annahmen, Motive und Beweggründe führen würde, sondern eher zu prüfungsstrategischem Als-ob-Verhalten, das lediglich darauf gerichtet ist, den definierten Leistungsanforderungen Genüge zu tun (de la Croix und Veen
2018). Hier klingt ein wichtiger Konflikt an, der Prüfungen im Rahmen kompetenzorientierter Bildungskonzepte insgesamt betrifft: Bislang dominierte bei Prüfungen im Medizinstudium deren summativer Aspekt, d. h. die Frage, ob eine Person zum Zeitpunkt X eine bestimmte Leistungsanforderung erfüllt hat (Assessment
of Learning). Für kompetenzorientierte Curricula wird allerdings aus verschiedenen Gründen (grundsätzliche Offenheit von Kompetenzen, Entwicklungsaspekt, Veränderungsdynamik medizinischen Wissens, etc.) die formative Funktion als wesentlich wichtiger angesehen, d. h. eine möglichst differenzierte Rückmeldung an den oder die Studierende, die vor allem als Orientierung für das weitere Lernen genutzt werden kann (Assessment
for Learning). Ein schwer zu lösendes Problem besteht allerdings darin, dass diese Rückmeldung nicht valide ist, wenn die in der Prüfung gezeigte Leistung nicht die tatsächliche Kompetenz einer Person erfasst, sondern lediglich das Resultat einer gezielten Prüfungsvorbereitung. Studienergebnisse zeigen, dass es schwer ist, diese formative Funktion von Prüfungen überhaupt zu etablieren. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Studierende ihr Lernverhalten ab dem Moment, in dem sie realisieren, dass sie geprüft werden, strategisch auf das Bestehen der Prüfung ausrichten und nicht etwa darauf, was sie selbst oder ihre Lehrpersonen vielleicht für die persönliche Entwicklung aus inhaltlichen Gründen am sinnvollsten halten würden (Watling und Ginsburg
2019). Besonders betroffen sind davon klinische Situationen, in denen die Studierenden direkt beobachtet werden. Gerade solche Situationen wären besonders geeignet für ein spezifisches Feedback an die Studierenden – auch und gerade im Hinblick auf ihr professionelles Handeln –, das sie zur weiteren Entwicklung ihrer Kompetenz nutzen können. Offensichtlich interpretieren die Studierenden aber allein die Tatsache, dass sie von einer Lehrperson beobachtet werden, als Hinweis auf eine eher summative Prüfungssituation, die es ihnen erschwert, sich authentisch zu verhalten, was dann wiederum Wert und Nutzen der daraufhin erfolgenden Rückmeldung schmälert (LaDonna et al.
2017). Will man die formative Funktion von Prüfungen bzw. von Feedback stärken, kommt es offensichtlich entscheidend darauf an, dass eine Lehr- und Lernkultur etabliert wird, in der für alle Beteiligten nicht die Kontrollfunktion von Prüfungen dominiert, sondern deren Potenzial, das Lernen und die individuelle Entwicklung der Studierenden zu unterstützen (Heeneman et al.
2015).