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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 4/2023

Open Access 11.10.2023 | Pädophilie | Debatte

Über 15 Jahre „Kein Täter werden“ – mehr Schaden als Nutzen?

verfasst von: Andrej König, Prof. Dr. rer. nat.

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 4/2023

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Zusammenfassung

Der verursacherbezogene Dunkelfeldansatz des Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ bietet seit über einem Jahrzehnt nichtstrafverfolgten pädophilen und/oder hebephilen Hilfesuchenden therapeutische Unterstützung zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige an. Kritiker bemängeln jedoch methodische Schwächen in den durchgeführten Selbstevaluationsstudien der Projektverantwortlichen, die die kriminalpräventive Wirksamkeit infrage stellen. Die selbstberichtete Kriminalitätsbelastung liegt in einer aktuellen Follow-up-Untersuchung im Vergleich zu kriminologischen Hellfeldstudien mit Sexualstraftätern deutlich höher. Aus forensisch-kriminologischer Sicht lässt der in Berlin etablierte verursacherbezogene Dunkelfeldansatz erhebliche Zweifel an seiner kriminalpräventiven Wirksamkeit aufkommen.
Seit über 15 Jahren bietet der Standort Berlin des bundesweiten Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ nichtstrafverfolgten pädophilen und/oder hebephilen Hilfesuchenden anonyme therapeutische Unterstützung im Dunkelfeld an, mit dem Ziel, sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige zu verhindern (von Heyden et al. 2021). Eine erste kontrollierte Pilotstudie (Beier et al. 2015) konnte jedoch während der 12-monatigen Therapiedauer keine kriminalpräventiven Effekte auf der Verhaltensebene nachweisen. Die Pilotstudie von Beier et al. (2015) sowie der allgemeine Ansatz der verursacherbezogenen Dunkelfeldprävention wurden in den letzten Jahren hinsichtlich verschiedener inhaltlicher und methodischer Aspekte kritisiert (z. B. König 2015a, b, 2016; Dölling et al. 2015; Tozdan et al. 2018; Rettenberger 2018; Mokros und Banse 2019; von Franqué und Briken 2021). Zudem weisen Stephens et al. (2022) in einer aktuellen Übersichtsarbeit darauf hin, dass es international bislang keine belastbaren empirischen Erkenntnisse zur Verhinderung von pädosexueller Gewalt durch verursacherbezogene kriminalpräventive Angebote im Dunkelfeld gibt.
Umso erstaunlicher ist es, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit 2018 (verlängert bis 2025) ebensolche Modellprojekte gemäß § 65d SGB V mit jährlich 5 Mio. € fördert. Neben der Förderung durch den GKV-Spitzenverband erhalten oder erhielten die derzeit bundesweit 14 Standorte des Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ teilweise auch Unterstützung durch die jeweiligen Bundesländer und verschiedene Ministerien. Diese breite Förderung unterstreicht deutlich den gesellschaftlichen und politischen Wunsch, sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige kriminalpräventiv zu bekämpfen, was sehr zu begrüßen ist.
Daher ist es erfreulich, dass Nentzl und Scherner (2021) in einer ersten Follow-up-Untersuchung eine erfolgreich behandelte Stichprobe (n = 56) aus dem Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“, über einen Katamnesezeitraum von durchschnittlich M = 6,13 Jahren weiterverfolgen konnten. Bedauerlich ist dagegen der Verzicht auf eine Kontrollgruppe. Auch die in der Literatur bereits diskutierten methodischen Kritikpunkte – geringe Stichprobengröße, Ausschluss von Behandlungsabbrechern (im Sinne eines „Intention-to-treat“-Ansatzes), wenig transparente und vage Formulierung der Rückfallitems, keine Berücksichtigung von offiziellen Hellfelddaten, Ungenauigkeiten bei der Datendarstellung u. a. – setzen sich in der Untersuchung von Nentzl und Scherner (2021) leider fort. Die Befunde aus den Selbstauskünften zur pädosexuellen Kriminalitätsbelastung sind trotzdem bemerkenswert.
Im Beobachtungszeitraum berichteten insgesamt 85,7 % (n = 48; [95 %-KI 74–93]) der behandelten Männer (n = 56) über erste oder weitere pädosexuelle Delikte nach Abschluss der Behandlung. Davon gaben 4,2 % (n = 2) pädosexuelle Missbrauchsdelikte und 95,8 % (n = 46) den Konsum von pädosexuellen Missbrauchsabbildungen an. Als Beleg für die Verhinderung von sexuellem Kindesmissbrauch betonen Nentzl und Scherner (2021), dass die Rückfallquote mit „Missbrauchsdelikten“ bei Probanden, die vor Therapiebeginn (n = 26) über pädosexuelle Missbrauchshandlungen berichteten, bei 7,7 % (n = 2; [95 %-KI 1–25]) liegt. Dies sei geringer als die Rückfallquoten von verurteilten unbehandelten (13,7 %) oder behandelten (10,1 %) Sexualstraftätern aus einer Metaanalyse von Schmucker und Lösel (2017). Allerdings ist dieser Vergleich aus mehreren Gründen methodisch fragwürdig.
Zunächst bleibt unklar, warum der Konsum von Missbrauchsabbildungen von Nentzl und Scherner (2021) bei der Bestimmung der Rückfallquote für den Vergleich mit der Metaanalyse von Schmucker und Lösel (2017) ausgeschlossen wurde. Schmucker und Lösel (2017) haben in ihrer Metaanalyse jegliche Form von offiziell registrierter Sexualdelinquenz als abhängige Variable inkludiert. Im Gegensatz dazu basieren die Rückfalldaten in der Arbeit von Nentzl und Scherner (2021) nicht auf offiziell registrierten Hellfelddaten (z. B. Verurteilungen, Inhaftierungen), sondern auf Befragungsdaten einer selbstselektierten Stichprobe von behandelten nichtstrafverfolgten Hilfesuchenden.
Von 110 behandelten Hilfesuchenden, die das Einschlusskriterium von mindestens einem Jahr Nachbeobachtungszeitraum erfüllten, konnten lediglich 50,9 % (n = 56) für die Follow-up-Befragung gewonnen werden. Auffällig ist, dass nur für 69 Personen aktuelle Kontaktdaten vorlagen, ohne dass die Gründe für das Fehlen von Kontaktdaten (z. B. mögliche Inhaftierungen) benannt wurden.
Dies ist ein generelles methodisches Problem von auf wenig verlässlichen Selbstauskünften basierenden Evaluationsstudien, sodass Schmucker und Lösel (2017) in ihrer Metaanalyse eben solche Studien aus methodischen Gründen explizit ausgeschlossen haben. Eine statistische Überprüfung der von Nentzl und Scherner (2021) formulierten Annahme, dass die Probanden der Follow-up-Studie geringere Rückfallquoten mit „Missbrauchsdelikten“ aufweisen als behandelte (Log(BF10) = −1,94; p = 1,00) oder unbehandelte (Log(BF10) = −1,57; p = 0,57) Sexualstraftäter in der Metaanalyse von Schmucker und Lösel (2017), konnte mithilfe des Binomialtests nicht bestätigt werden. Die logarithmischen Bayes-Faktoren weisen im Gegenteil darauf hin, dass sich kein Unterschied hinsichtlich der Rückfallquoten zeigt.
Bei Betrachtung der Rückfallquote für alle selbstberichteten pädosexuellen Delikte (85,7 %) in Nentzl und Scherner (2021) zeigt sich eine erheblich höhere Kriminalitätsbelastung im Vergleich zu aktuellen Studien und Metaanalysen (3,6 bis 20 %) mit Sexualstraftätern (Grønnerød et al. 2015; Schmucker und Lösel 2017; Gannon et al. 2019; Elsner et al. 2020; Yu et al. 2022; Holper et al. 2023). Grundsätzlich ist ein Vergleich von Studien, die auf Selbstauskünften beruhen, und solchen, die auf offiziell registrierten Straftaten basieren, in der kriminologischen Forschung wenig sinnvoll, da die Verlässlichkeit und Aussagekraft der Ergebnisse durch methodische Unterschiede und potenzielle Verzerrungseffekte (z. B. soziale Erwünschtheit, Selbstselektion, „recall bias“) beeinträchtigt werden können.
Ein weiteres Problem der Follow-up-Untersuchung von Nentzl und Scherner (2021) ist, dass nur die Deliktkategorien „Nutzung von sexuell erregendem Bildmaterial mit Kindern“ und „Missbrauchsdelikte“ abgefragt wurden und dabei eine Vielzahl von möglichen Straftatbeständen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen (z. B. § 180 StGB Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger) unberücksichtigt geblieben sind. Die tatsächliche pädosexuelle Kriminalitätsbelastung der behandelten Stichprobe könnte daher sogar höher liegen als die berichteten 85,7 %. Erstaunlich ist auch, dass 28,6 % (n = 16) der nichtstrafverfolgten Hilfesuchenden freiwillig mit desexualisierenden Medikamenten behandelt wurden (Nentzl und Scherner 2021, S. 255). Das hohe Ausmaß an selbstberichteter pädosexueller Delinquenz im Beobachtungszeitraum stellt damit auch die kriminalpräventive Wirksamkeit einer desexualisierenden Pharmakotherapie infrage (König und Pniewski 2018).
Betrachtet man die auf Selbstauskünften basierenden Rückfalldaten aus Nentzl und Scherner (2021) im Detail, zeigt sich, dass alle 47 Männer (100 %; [95 %-KI 91–100]), die vor Beginn der Therapie über pädosexuelle Kriminalität im Dunkel- oder im Hellfeld berichteten, ihr pädokriminelles Verhalten auch nach Abschluss der Behandlung fortsetzten. Zudem wurden 11,1 % (n = 1; [95 %-KI 0–46]) der Männer, die vor Therapiebeginn keine pädosexuellen Delikte (n = 9) berichteten, erstmals durch den Konsum von pädosexuellen Missbrauchsabbildungen auffällig. Aus forensisch-kriminologischer Sicht lässt der in Berlin etablierte verursacherbezogene Dunkelfeldansatz erhebliche Zweifel an seiner kriminalpräventiven Wirksamkeit aufkommen.
Als Ursachen für fehlende oder iatrogene kriminalpräventive Effekte des verursacherbezogenen Dunkelfeldansatzes lassen sich v. a. zwei Aspekte diskutieren.
Die forensisch-kriminologische Behandlungsforschung legt nahe, dass deliktorientierte Therapien bei „Low-risk“-Tätern keine oder sogar iatrogene kriminalpräventive Effekte haben können. Eine aktuelle Metaanalyse von Holper et al. (2023) zeigt, dass eine deliktorientierte Behandlung von Sexualstraftätern mit niedrigem Rückfallrisiko (OR 0,68 [95 %-KI 0,60–0,78], p < 0,001, k = 8, n = 17982) zu höheren Rückfallraten mit Sexualdelikten führt als in der Vergleichsgruppe. Im Gegensatz dazu ergeben sich die größten kriminalpräventiven Behandlungseffekte bei „High-risk“-Tätern (Lovins et al. 2009; Schmucker und Lösel 2017).
Die Zielgruppe des Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ umfasst nichtstrafverfolgte und freiwillig Hilfesuchende, die unter ihren pädosexuellen Fantasien und/oder Handlungen leiden oder befürchten, in Zukunft pädosexuelle Delikte zu begehen. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei nichtstrafverfolgten, problembewussten, hilfesuchenden und unter Leidensdruck stehenden Personen um eine Zielgruppe handelt, die eher der Risikokategorie „low risk“ zuzuordnen ist, sodass durch eine deliktorientierte Behandlung kaum positive oder sogar iatrogene kriminalpräventive Effekte zu erwarten sind.
Das alleinige Vorliegen einer Störung der Sexualpräferenz als hinreichender forensischer Risikomarker für die Indikation deliktorientierter therapeutischer Maßnahmen im Dunkelfeld lässt sich ebenfalls nicht mit Erkenntnissen aus dem kriminologischen Hellfeld in Einklang bringen. In einer aktuellen Studie von Biedermann et al. (2023) mit haftentlassenen pädosexuellen Tätern (n = 353) ergab sich kein statistisch signifikanter korrelativer Zusammenhang zwischen erneuter Straffälligkeit mit Sexualdelikten und dem Vorliegen einer Störung der Sexualpräferenz (φ = 0,04; p = 0,49). Lediglich für die Diagnosen Exhibitionismus (φ = 0,21; p = 0,008), Voyeurismus (φ = 0,14; p = 0,032) und die exklusive Pädophilie (φ = 0,24; p = 0,008) zeigten sich geringe positive korrelative Zusammenhänge. Eine nichtexklusive Pädophilie (φ = −0,14; p = 0,032) korrelierte dagegen negativ mit erneuten Sexualdelikten. Keine der erfassten klinischen Diagnosen war in der Lage, die inkrementelle Vorhersagegüte standardisierter aktuarischer Risikoprognoseinstrumente für Sexualstraftäter zu erhöhen (Biedermann et al. 2023, Tab. 3). In der Follow-up-Studie von Nentzl und Scherner (2021, S. 254) erfüllte nur etwa die Hälfte der Probanden die Diagnosekriterien einer exklusiven Pädophilie, die andere Hälfte war damit dem nichtexklusiven Typus zuzuordnen.
Potenziell schädliche Behandlungsansätze (Strauß 2021) oder auch Deteriorationseffekte (Barlow 2010), die zu einer Verschlechterung der Symptomatik und vermehrten problematischen Verhaltensweisen führen, sind in der Psychotherapieforschung lange bekannt. Selbst auf den ersten Blick vielversprechende psychotherapeutische Interventionen können eine Fülle möglicher Fehlurteile und methodischer Probleme beinhalten, die eine kausale Attribution des Erfolgs auf therapeutische Interventionen unmöglich machen (Lilienfeld et al. 2014). Auch in der therapeutischen Arbeit mit verurteilten Sexualstraftätern in der forensischen Regelversorgung gibt es langjährig etablierte deliktorientierte Behandlungsprogramme, die aufgrund ihrer schädlichen kriminalpräventiven Effekte und einer umfangreichen soliden empirischen Begleitforschung eingestellt wurden (Völlm 2018).
Es ist daher gerade aus Kinderschutzperspektive unverständlich, dass der Initiator des Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ aus „ethischen und versorgungspolitischen Gründen“ und aufgrund evtl. „drohender Fremdgefährdung“ randomisierte Kontrollgruppendesigns für schwer umsetzbar hält (von Heyden et al. 2021, S. 277). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Nentzl und Scherner (2021), die zeigen, dass alle Männer, die vor der Therapie selbstberichtete pädosexuelle Delikte begangen hatten, auch nach Therapieende pädosexuelle Delikte angeben und es bei jedem 10. sogar zu einer Ersttäterschaft kam, ist eine methodisch solide empirische Überprüfung der kriminalpräventiven Effektivität des Dunkelfeldansatzes aus ethischen Gründen nicht nur notwendig, sondern zwingend erforderlich. Die Zurückhaltung der Projektverantwortlichen gegenüber randomisierten kontrollierten Evaluationsstudien aus ethischen Gründen und zum Schutz von potenziellen Opfern kann nach Lilienfeld et al. (2014) als „confirmation bias“ betrachtet werden, da scheinbar eine kriminalpräventive Effektivität des neu etablierten verursacherbezogenen Dunkelfeldansatzes a priori angenommen wird, trotz bislang fehlender empirischer Belege. Insbesondere der Werbeslogan „Kein Täter werden“ kann hierbei als irreführend angesehen werden, denn die Ergebnisse von Nentzl und Scherner (2021) zeigen klar: „Wer Täter war, bleibt auch Täter“ und „Wer bislang kein Täter war, kann zum Täter werden“.
Besonders fragwürdig ist die Übertragung des verursacherbezogenen Dunkelfeldansatzes für Erwachsene auf die weitaus vulnerablere Gruppe der Minderjährigen. Im Präventionsprojekt „Du träumst von ihnen“, das ebenfalls vom GKV-Spitzenverband gefördert wird, werden seit 2014 sexuell auffällige Kinder, Jugendliche und Heranwachsende im Alter von 12 bis 19 Jahren (M = 15,4 Jahre) behandelt (Schlinzig et al. 2021). Da das DSM‑5 und andere international anerkannte Klassifikationssysteme die klinische Diagnose „pädophile Störung“ aus gutem Grund erst ab dem 16. Lebensjahr zulassen, wurde durch die Projektverantwortlichen für die Gruppe der Minderjährigen eine in der Literatur bisher völlig unbekannte diagnostische Kategorie der „sexuellen Präferenzbesonderheit für das kindliche Körperschema“ (Schlinzig et al. 2021, S. 188) geschaffen. Es ist wichtig zu betonen, dass das aktuelle DSM‑5 ausdrücklich vor derartigen diagnostischen Experimenten warnt (Falkai und Wittchen 2015, S. 961):
„Der Versuch, eine Pädophile Störung in dem Alter zu diagnostizieren, in dem sich die Störung zuerst manifestiert, ist problematisch, da es während der jugendlichen Entwicklung schwierig ist, sie von einem altersgemäßen sexuellen Interesse gegenüber Gleichaltrigen oder von sexueller Neugierde zu unterscheiden.“
Ein Hauptziel der Behandlung im Präventionsprojekt für Jugendliche ist es, die „sexuelle Präferenzbesonderheit für das kindliche Körperschema“ in das eigene Selbstbild zu integrieren und diese zu akzeptieren, da keine Veränderung der sexuellen Präferenz (im Sinne einer Löschung sexueller Fantasien) in Aussicht gestellt werden kann (Schlinzig et al. 2021, S. 189). Auch diese äußerst pessimistische therapeutische Haltung widerspricht international anerkannten Klassifikationssystemen. Das DSM‑5 weist darauf hin, dass eine „pädophile Störung“ grundsätzlich veränderbar ist, sowohl mit als auch ohne Therapie (Falkai und Wittchen 2015, S. 962):
„Mit zunehmendem Alter verringert sich die Häufigkeit sexueller Verhaltensweisen mit Kindern wahrscheinlich auf ähnliche Weise wie sich andere paraphil motivierte und sexuelle Verhaltensweisen im Normbereich verringern.“
Es ist besorgniserregend, dass für Minderjährige mit entsprechender Indikation und komorbider psychiatrischer Erkrankung auch eine medikamentöse Behandlung mit dem Ziel einer sexuell impulsdämpfenden Wirkung in Betracht gezogen werden kann (Schlinzig et al. 2021, S. 189). Ob und unter welchen Rahmenbedingungen eine solche medikamentöse Behandlung bei Minderjährigen und jungen Erwachsenen im Dunkelfeld zulässig ist, stellt eine juristische Frage dar, die in Deutschland durch das Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (KastrG) geregelt ist. Von einer entwicklungspsychologischen Perspektive aus betrachtet, sind medikamentöse Eingriffe mit dem Ziel der Desexualisierung von Kindern und Jugendlichen außerhalb eines strafrechtlichen Kontextes nicht zu rechtfertigen. Diese Eingriffe können zwar dazu führen, dass sexuelle Impulse reduziert werden, jedoch besteht gleichzeitig die große Gefahr, wichtige sexuelle und soziale Lernerfahrungen in der Entwicklung zu verhindern (König und Pniewski 2018).
Obwohl es eine Fülle wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu den Dunkelfeldansätzen „Kein Täter werden“ und „Du träumst von ihnen“ gibt, fehlen bislang prospektive Kontrollgruppenstudien mit hinreichender Stichprobengröße, die eine kriminalpräventive Wirksamkeit belegen oder eine potenzielle Schädigung ausschließen könnten. Es bleibt zu hoffen, dass die vom GKV-Spitzenverband initiierte und mit einem Budget von 1,6 Mio. € geförderte unabhängige Evaluation der Modellprojekte gemäß § 65d SGB V durch die TU Chemnitz zu methodisch belastbareren Ergebnissen bezüglich der kriminalpräventiven Wirksamkeit der Dunkelfeldansätze führt als die bisherigen Selbstevaluationsstudien der Versorgungsanbieter. Denn mit 4229 abgeschlossenen klinisch-diagnostischen Eingangsuntersuchungen und 1388 Hilfesuchenden, die bis Dezember 2020 eine Therapie begonnen haben (Kuhle et al. 2021, S. 176f.), hätte das Netzwerk „Kein Täter werden“ das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur kriminologischen Präventionsforschung zu leisten, wenn neben wenig verlässlichen Selbstauskünften auch kriminologische Hellfelddaten aus dem Bundeszentralregister hinzugezogen würden. Dies sollte der Mindestanspruch an eine evidenzbasierte und aufgeklärte Kriminalprävention im Dunkelfeld sein, um sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige erfolgreich zu reduzieren und potenzielle Schädigungen zu vermeiden.
Selbstverständlich gilt die Forderung nach methodisch belastbaren kontrollierten Studien zur Bewertung der kriminalpräventiven Effektivität therapeutischer Programme gleichermaßen für die forensische Regelversorgung von pädosexuellen Straftätern (z. B. im Maßregelvollzug). Auch hier ist die Frage „Was wirkt beim wem?“ noch lange nicht geklärt (Schmucker und Lösel 2017; Holper et al. 2023).

Interessenkonflikt

A. König gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Zurück zum Zitat Rettenberger M (2018) Effekte der Tertiärprävention bei Sexualstraftätern – ein kriminalpräventives Erfolgsmodell. In: Walsh M, Pniewski B, Kober M, Armborst A (Hrsg) Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden, S 601–618 https://doi.org/10.1007/978-3-658-20506-5_31CrossRef Rettenberger M (2018) Effekte der Tertiärprävention bei Sexualstraftätern – ein kriminalpräventives Erfolgsmodell. In: Walsh M, Pniewski B, Kober M, Armborst A (Hrsg) Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden, S 601–618 https://​doi.​org/​10.​1007/​978-3-658-20506-5_​31CrossRef
Metadaten
Titel
Über 15 Jahre „Kein Täter werden“ – mehr Schaden als Nutzen?
verfasst von
Andrej König, Prof. Dr. rer. nat.
Publikationsdatum
11.10.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Schlagwörter
Pädophilie
Pädophilie
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-023-00797-1

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