Erschienen in:
18.10.2019 | Impfungen | Originalien
Polioschluckimpfung in Westberlin 1960
Impfversuche in Kinderheimen
verfasst von:
Lea Münch
Erschienen in:
Monatsschrift Kinderheilkunde
|
Ausgabe 9/2022
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Zusammenfassung
Hintergrund
Die flächendeckende Einführung der Polioschluckimpfung in der Bundesrepublik 1961 stellt einen der wichtigsten Fortschritte in der präventiven Kinderheilkunde in der Nachkriegszeit dar. Begleitet wurde diese jedoch von ethisch fragwürdigen Versuchsreihen in mehreren Westberliner Kinderheimen. Die Impfaktion im Mai 1960 in Westberlin wurde als unumgängliche Maßnahme betrachet, nachdem die DDR zuvor eine Massenimmunisierung mit der oralen Poliovakzine angeordnet hatte und man eine Einschleppung des Impfvirus in den Westen befürchtete.
Methodik
Zentral für die Analyse sind die Publikationen zu den Impfversuchen sowie die Sitzungsprotokolle der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung e. V. Letztere sind im Bundesarchiv Koblenz (BArch) einsehbar.
Ergebnisse
Im Kinderheim Elisabethstift wurde zur Überprüfung der Übertragung und Stabilität des Impfvirus eine Versuchsreihe initiiert, wobei eine Kontrollgruppe ungeimpft blieb. Bei allen diesen Kindern konnte das Impfvirus unverändert nachgewiesen werden.
Diskussion
Durch die Nichtimpfung der Kontrollgruppe wurde diesen Kindern wissentlich eine präventive Maßnahme vorenthalten, die man der restlichen Bevölkerung eindringlich empfahl. Die ungeklärten möglichen Risiken des Versuchsdesigns für die betroffenen Kinder wurden in Kauf genommen und bewusst dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn untergeordnet. Viele Faktoren legen nahe, dass die ärztlichen Entscheidungsträger*innen die Versuche dennoch als legitim erachteten. Die Gründe hierfür sind in der Kontinuität nationalsozialistischer Ideologie, einer utilitaristischen Denkweise und rigidem ärztlichem Paternalismus zu suchen.