Zusammenfassung
Bei der überwiegenden Mehrzahl (95–97 %) sexuell missbrauchter Kinder lassen sich keine auffälligen körperlichen Befunde erheben. Die korrekte Erhebung, Dokumentation und auf aktueller Evidenz basierende Interpretation der Gesamtsituation kann dennoch erhebliche Implikationen für den Schutz und die umfassende ärztliche Betreuung betroffener Kinder haben. Die medizinische Untersuchung kann dazu beitragen, ein durch den Missbrauch verursachtes pathologisches Körperselbstbild durch die ärztliche Bestätigung körperlicher Normalität und Integrität zu entlasten. Voraussetzung für eine fachgerechte medizinische Betreuung sind kinder- und jugendgynäkologische und forensische Kenntnisse. Dazu kommt die Kenntnis der methodischen Einschränkungen und Aussagefähigkeit medizinischer Befunde und die Berücksichtigung aktueller Empfehlungen, Leitlinien und der wissenschaftlichen Literatur. Die Gründe für die hohe Rate an Normalbefunden bei sexuellem Kindesmissbrauch müssen jedem Arzt bekannt sein, um Fehleinschätzungen der Aussagen der betroffenen Kinder und Jugendlichen aufgrund fehlender Verletzungsbefunde zu vermeiden. Beweisend sind definierte, akute anogenitale Verletzungen bzw. ihre Residuen, die nicht akzidentell erklärbar sind, eine gesicherte Gonorrhö, Syphilis oder HIV-Infektion (nach Ausschluss einer angeborenen Infektion), eine Schwangerschaft oder der Nachweis von Sperma in oder auf dem Körper eines Kindes. Für eine Reihe von Befunden, die als missbrauchsverdächtig gelten, ist die Zuordnung mit Unsicherheiten behaftet, da die Datenlage für eine definitive Bewertung noch unzureichend ist. Trotz des hier skizzierten Stellenwertes der medizinischen Diagnostik beruht die Diagnose des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach wie vor in erster Linie auf einer qualifiziert erhobenen Aussage des Kindes.